Leibniz in Altdorf (1666-1667) Teil 1

Warum er nach Altdorf kam

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wurde vier Jahre vor Descartes‘ Tod und zwei Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geboren (Poser, S 12). Das Ringen um die Theorien Descartes sollten seine Philosophie, das Bemühen, einen erneuten europäischen Religions- – und Bürgerkrieg durch die Überwindung der Spaltung des Christentums zu verhindern, sollten seine politischen Bemühungen bis zu seinem Lebensende bestimmen.
Er studierte ab 1661 nach bereits längerem intensivem Lesen der philosophischen Klassiker (Aristoteles, Platon), der Scholastik und der neuen Philosophie (Descartes) in der umfangreichen Bibliothek seines 1652 verstorbenen Vaters (er war Professor in Leipzig) Mathematik, Philosophie und Jura in Leipzig und Jena. „Ich habe von jeher versucht, die Wahrheit, die unter den Ansichten der verschiedenen philosophischen Sekten begraben und verstreut liegt, aufzudecken und mit sich selbst zu vereinigen…“ schreibt er 1714, am Ende seines Lebens, in einem Brief (Leibniz/Heer, S 61) und drückt damit seine frühe Absicht aus, geistigen Widerstreit zu versöhnen und, als Mittel zu diesem Zweck, die Vielfalt der Erscheinungen in der Einheit des Wissens zu finden. Er wechselte im Herbst 1666 nach Altdorf, nachdem man ihm eine Promotion in Leipzig verweigert hatte. Mit 20 Jahren zu jung, und weil eine Promotion damals zugleich mit einer bezahlten juristischen Stelle an der Universität zur Klärung von Rechtsfragen verbunden war (das sog. Spruchkollegium), bewarben sich um diese attraktiven Posten Kandidaten mit älteren Ansprüchen, die dann auch vorgezogen wurden. Leibniz kam deshalb nicht zum Zuge, wollte aber nicht zu lange hingehalten werden (Fischer, S 39f).
So immatrikulierte er sich am 04. Oktober 1666 mit einem wohl bereits fertiggestellten Thesenpapier in der Tasche in Altdorf, und unterbreitete es schon am 15. November mit dem Titel: Disputation de Casibus perplexis in Jure – Disputation über schwierige Fälle im Rechtswesen – der dortigen Professorenschaft. Das Thesenpapier und die Präsentation brachten ihm akademische Bestnoten ein. Am 22. Februar 1667 kam es in Altdorf schließlich zu einer offiziellen Graduationsfeier und der Verleihung der Doktorwürde
(Antognazza, S 66f.), in der er erneut mit lateinischer Prosa und lateinischen Versen brillierte.
Das Thesenpapier selbst behandelt „schwierige (perplexis) Fälle“, die vom geltenden positiven Zivilrecht nicht eindeutig gelöst werden konnten. Es handelt sich hierbei um juristische Antinomien (Widersprüche) in Fällen, für die es gute rechtliche Gründe jeweils für beide Streitparteien gab (Antognazza S 67; Mates, S 18). Leibniz stellt sich in seiner Arbeit die Frage: Auf welcher Basis sollten derartige Fälle entschieden werden? Er diskutiert vier Möglichkeiten (Siehe Mates, S 18 und Arthur, S 169f):
– Der Richter kann sich weigern, eine Entscheidung zu fällen;
– Der Richter kann eine Münze werfen;
– Der Richter kann die Entscheidung dem gesunden Menschenverstand überlassen, ohne Rückgriff auf das Gesetz;
– Der Richter regelt den Fall auf der Grundlage allgemein erkennbarer ethischer Prinzipien wie Barmherzigkeit, Billigkeit, Menschlichkeit, Nützlichkeit usw., die der Vernunft zugänglich und die breiter angelegt sind als das positive Recht aus der Macht des Gesetzgebers.
Leibniz favorisierte die letztgenannte Strategie: Für ihn hat das positive, vom Menschen gesetzte Recht Wirkung nur aufgrund eines Vertrages, der durch die Gründung eines Staatswesens und der Verleihung der Macht an einen Souverän die Anwendbarkeit des Naturrechts einschränkt. Dieser Vertrag kann die Intentionen des Naturrechts durchaus sichern. Aufgrund der sozialen Relativität und der Unvollkommenheit der Menschen ist das positive Recht aber fehlerbehaftet und führt dann zu den o.g. „schwierigen Fällen“, die innerhalb dieses Rechts selbst keine Lösung finden (Rescher, S 137f). Wenn das positive Recht deshalb nicht mehr anwendbar ist, dann muss auf das Naturrecht als die ursprünglichere und für Leibniz höhere Macht zurückgegriffen werden (Mates, S 18).
Zur Information: Das Naturrecht ist der Auffassung, „dass Recht und Gesetz eine moralische Grundlage haben und dass die politisch-rechtliche Ordnung eines Landes anhand von objektiven und natürlichen Grundsätzen zu beurteilen ist. … Das Recht, so das Argument, beruhe auf Moral und diese auf die Natur…“ (Hügli, Lübcke, S 630f.). Quellen dieser Moral sind die Natur oder, bei Leibniz ganz wichtig, der Erschaffer dieser Natur, Gott. Gott hat uns mit der Fähigkeit ausgestattet, die moralischen Grundlagen jeden Rechts mit Hilfe der Vernunft zu erkennen.
Diese Dissertation von Leibniz, in Altdorf präsentiert, findet in der Diskussion seiner Leistung als Jurist und als Philosoph leider und unverdientermaßen nur noch eine geringe Beachtung. Trotzdem weist sie auf etwas hin, was Leibniz bis zum Ende seines Lebens bewegte: Wie gelingt es, Macht zu beschränken, Herrschaftswillkür zu verhindern, der Freiheit eine Grundlage zu geben. Dieses Bemühen findet in seinen späteren juristischen und philosophischen Schriften eine konsequente Fortsetzung. Darauf weist der britische Philosoph und Leibniz-Biograph Nicholas Jolley (S 182) hin: Für Leibniz ist Macht niemals Quelle von Recht und Gerechtigkeit. Deshalb ist Leibniz auch ein früher Philosoph des vernunftgegründeten Freiheitsgedankens in Europa. Nur die Vernunft, die Prüfung von Gründen, kann Recht ohne Machtwillkür gewährleisten, denn, so Leibniz: „Zu sagen, mein Wille, meine Macht, nehmen den Platz der Vernunft ein, ist genau das Motto der Tyrannei. Diese Meinung würde außerdem nicht hinreichend Gott von dem Teufel unterscheiden.“ (Riley, S 46).

(c) Peter Kopf 2016

Fortsetzung folgt