Leibniz in Altdorf (1666-1667) Teil 2

Warum er nicht blieb

Als Leibniz seine Heimatstadt und die Universität Leipzig im Herbst 1666 verließ und im Verlauf seines Lebens nur noch selten dorthin zurückkehrte, gab er all die Möglichkeiten auf, die ihm an der damals größten Universität deutscher Sprache als brillanten Akademiker offen standen. Altdorf hingegen brauchte er lediglich für seine Promotion als dokumentierten Abschluss seines Jurastudiums. Die Universität Altdorf mit ihren nur vier Professoren an deren juristischer Fakultät (Will, S 80) lag außerdem in der Provinz, damals eine Tagesreise entfernt von der Stadt Nürnberg. Diese ehemals reiche Stadt hatte, wie ihre Universität, ihre besten Jahre bereits hinter sich, war hoch verschuldet (Recktenwald, S 13, 46) und bot dem jungen Genie deshalb keinen Anreiz zu bleiben. Leibniz erhielt nacheinander zwei Angebote für eine Professur von der dafür zuständigen Nürnberger Behörde unter Johann Michael Dilherr, der Empfehlung des Altdorfer Professors Johann Wolfgang Textor folgend (Antognazza, S 66, Aiton, S 42). Er lehnte die beiden Angebote vom April und Juli 1667 (Antognazza, S 80) ab mit der Bemerkung, noch mehr wissenschaftliche Ehren zu erwerben und die Welt kennen lernen zu wollen (Antognazza, S 65). Die in seiner Zeit maßgeblichen Philosophen (Descartes, Hobbes, Spinoza, Locke, Malebranche u.a.) waren allesamt keine Professoren, und vor allem die kontinentalen Universitäten galten allgemein als „Bastionen des intellektuellen Konservatismus“ (Jolley, S 16). Er hatte durch sein Studium der Antike, der Scholastik und der modernen Philosophie, der Theologie und der Naturwissenschaften die Überzeugung gewonnen, dass die vielen widerstreitenden Meinungen jeweils einen wahren Kern hatten und zu diesem Kern wollte er vorstoßen, um die sich so heftig bekämpfenden Ansichten schließlich zu versöhnen. Dieser jugendliche „Prometheische Traum“ ließ es nicht zu, „in die Fußstapfen seines Vaters und Verwandten zu treten oder sich still als Professor an einer der traditionell ausgerichteten deutschen Universitäten niederzulassen. Zuerst war es nötig, die Welt zu bereisen und seinen Horizont zu erweitern. … Jetzt war es an der Zeit, die Herausforderung anzugehen, vor der sich schon so viele junge Menschen gesehen haben – die Welt zu verändern.“ (Antognazza, S 67).
Wann genau er nach Nürnberg zog, ist den Quellen nicht entnehmbar, doch zwang ihn Geldnot, sich nach Arbeit umzusehen. Sein erster Arbeitgeber war eine Nürnberger Gesellschaft, die sich geheimen alchimistischen Experimenten verschworen hatte. Nach einer Bewerbung, bei der er vorgab, über Kenntnisse in Alchemie zu verfügen, wurde er deren Sekretär und unterstützte die Durchführung von Laborarbeiten (Aiton, S 44f). Und Leibniz hatte Glück: In Nürnberg lernte er Baron Johann Christian von Boineburg kennen, der als Diplomat und Minister bei dem mächtigen Kurfürsten und Erzbischof Johann Philipp von Schönborn gedient hatte. Dieser wollte seine Macht dazu nützen, die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken zu heilen. Leibniz konnte nichts Besseres tun, als sich um diesen für ihn idealen Posten am toleranten Hof dieses einflussreichen, weltoffenen katholischen Kur- und Kirchenfürsten in Mainz zu bewerben, Leibniz selbst war ja loyaler Protestant (Arthur, S 17) und blieb dies trotz lukrativer Angebote von katholischer Seite. Er unterstützte sein Anliegen mit dem Traktat „Eine neue Lern- und Lehrmethode in der Jurisprudenz“, den er dem Kurfürsten widmete (Aiton, S 45) und an dem er vielleicht schon in Altdorf/Nürnberg gearbeitet hatte. Leibniz „…begreift hier das Recht (im subjektiven Sinn) als sittliche Beschaffenheit (qualitas moralis) einer handelnden Person, die in der Freiheit zum Handeln besteht und unterscheidet es von der Verpflichtung als der moralischen Nötigung zum Handeln“ (Kabitz, S 99). In einer Wertabstufung der Maßgeblichkeit für Recht und Unrecht gilt als erstes
innerhalb des Erklärungsrahmens einer Moraltheologie der Wille Gottes, dann als zweites „das Interesse des gesamten Menschengeschlechts und des Staates und zuguterletzt erst das besondere Interesse des einzelnen Individuums…“ (Kabitz, S 101). Hier sehen wir erneut sein Bestreben, offenbar widerstreitende Meinungen auf ihren Wahrheitskern zurückzuführen: Er verbindet Elemente antiker Rechts-philosophie mit theologischen und scholastischen Gedanken und lässt zugleich, auf der untersten Wertstufe, moderne utilitaristische Nutzenkalküle zu.
Im Herbst 1667 muss er schließlich Nürnberg verlassen haben, denn am 25. November 1667 ist ein Besuch eines Verwandten in Frankfurt verbürgt (Antognazza, S 81). Hiermit endet der etwa einjährige Aufenthalt von Leibniz in Altdorf und Nürnberg.
Das Risiko, welches Leibniz mit der Ablehnung der Altdorfer Professur eingegangen war, hat sich für ihn schließlich gelohnt. Im Winter 1667-68 besucht er von Frankfurt aus den Bischofsitz des Kurfürsten in Mainz und unterbreitet seinen o.g. Traktat, den er unter großem Zeitdruck und ohne Literatur, in Frankfurter Gasthäusern logierend, fertig gestellt hatte.1668 erhält er schließlich die ersehnte Anstellung am Hof des Kurfürsten als Assistent eines seiner Hofjuristen, Hermann Andreas Lasser, bei dem er bis 1671 auch wohnt (Antognazza, S 81ff).
Leibniz hatte sein Sprungbrett gefunden, von dem aus er sich daran machte, neben den dienstlichen Pflichten seine Forschungen weiter zu betreiben und seine umfangreiche europaweite Korrespondenz mit den führenden Geistern seiner Zeit zu beginnen. Mit Leibniz werden die deutschsprachige Wissenschaft und Philosophie ein europäisches Unternehmen. Altdorf hat den jungen Leibniz als brillanten Juristen erlebt und beherbergt. Europa sollte ihn dann als genialen Mathematiker, bahnbrechenden Physiker, dem Frieden und der Versöhnung dienenden Diplomaten und bedeutenden Philosophen erleben.

(c) Peter Kopf 2016

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Leibniz in Altdorf (1666-1667) Teil 1

Warum er nach Altdorf kam

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wurde vier Jahre vor Descartes‘ Tod und zwei Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges geboren (Poser, S 12). Das Ringen um die Theorien Descartes sollten seine Philosophie, das Bemühen, einen erneuten europäischen Religions- – und Bürgerkrieg durch die Überwindung der Spaltung des Christentums zu verhindern, sollten seine politischen Bemühungen bis zu seinem Lebensende bestimmen.
Er studierte ab 1661 nach bereits längerem intensivem Lesen der philosophischen Klassiker (Aristoteles, Platon), der Scholastik und der neuen Philosophie (Descartes) in der umfangreichen Bibliothek seines 1652 verstorbenen Vaters (er war Professor in Leipzig) Mathematik, Philosophie und Jura in Leipzig und Jena. „Ich habe von jeher versucht, die Wahrheit, die unter den Ansichten der verschiedenen philosophischen Sekten begraben und verstreut liegt, aufzudecken und mit sich selbst zu vereinigen…“ schreibt er 1714, am Ende seines Lebens, in einem Brief (Leibniz/Heer, S 61) und drückt damit seine frühe Absicht aus, geistigen Widerstreit zu versöhnen und, als Mittel zu diesem Zweck, die Vielfalt der Erscheinungen in der Einheit des Wissens zu finden. Er wechselte im Herbst 1666 nach Altdorf, nachdem man ihm eine Promotion in Leipzig verweigert hatte. Mit 20 Jahren zu jung, und weil eine Promotion damals zugleich mit einer bezahlten juristischen Stelle an der Universität zur Klärung von Rechtsfragen verbunden war (das sog. Spruchkollegium), bewarben sich um diese attraktiven Posten Kandidaten mit älteren Ansprüchen, die dann auch vorgezogen wurden. Leibniz kam deshalb nicht zum Zuge, wollte aber nicht zu lange hingehalten werden (Fischer, S 39f).
So immatrikulierte er sich am 04. Oktober 1666 mit einem wohl bereits fertiggestellten Thesenpapier in der Tasche in Altdorf, und unterbreitete es schon am 15. November mit dem Titel: Disputation de Casibus perplexis in Jure – Disputation über schwierige Fälle im Rechtswesen – der dortigen Professorenschaft. Das Thesenpapier und die Präsentation brachten ihm akademische Bestnoten ein. Am 22. Februar 1667 kam es in Altdorf schließlich zu einer offiziellen Graduationsfeier und der Verleihung der Doktorwürde
(Antognazza, S 66f.), in der er erneut mit lateinischer Prosa und lateinischen Versen brillierte.
Das Thesenpapier selbst behandelt „schwierige (perplexis) Fälle“, die vom geltenden positiven Zivilrecht nicht eindeutig gelöst werden konnten. Es handelt sich hierbei um juristische Antinomien (Widersprüche) in Fällen, für die es gute rechtliche Gründe jeweils für beide Streitparteien gab (Antognazza S 67; Mates, S 18). Leibniz stellt sich in seiner Arbeit die Frage: Auf welcher Basis sollten derartige Fälle entschieden werden? Er diskutiert vier Möglichkeiten (Siehe Mates, S 18 und Arthur, S 169f):
– Der Richter kann sich weigern, eine Entscheidung zu fällen;
– Der Richter kann eine Münze werfen;
– Der Richter kann die Entscheidung dem gesunden Menschenverstand überlassen, ohne Rückgriff auf das Gesetz;
– Der Richter regelt den Fall auf der Grundlage allgemein erkennbarer ethischer Prinzipien wie Barmherzigkeit, Billigkeit, Menschlichkeit, Nützlichkeit usw., die der Vernunft zugänglich und die breiter angelegt sind als das positive Recht aus der Macht des Gesetzgebers.
Leibniz favorisierte die letztgenannte Strategie: Für ihn hat das positive, vom Menschen gesetzte Recht Wirkung nur aufgrund eines Vertrages, der durch die Gründung eines Staatswesens und der Verleihung der Macht an einen Souverän die Anwendbarkeit des Naturrechts einschränkt. Dieser Vertrag kann die Intentionen des Naturrechts durchaus sichern. Aufgrund der sozialen Relativität und der Unvollkommenheit der Menschen ist das positive Recht aber fehlerbehaftet und führt dann zu den o.g. „schwierigen Fällen“, die innerhalb dieses Rechts selbst keine Lösung finden (Rescher, S 137f). Wenn das positive Recht deshalb nicht mehr anwendbar ist, dann muss auf das Naturrecht als die ursprünglichere und für Leibniz höhere Macht zurückgegriffen werden (Mates, S 18).
Zur Information: Das Naturrecht ist der Auffassung, „dass Recht und Gesetz eine moralische Grundlage haben und dass die politisch-rechtliche Ordnung eines Landes anhand von objektiven und natürlichen Grundsätzen zu beurteilen ist. … Das Recht, so das Argument, beruhe auf Moral und diese auf die Natur…“ (Hügli, Lübcke, S 630f.). Quellen dieser Moral sind die Natur oder, bei Leibniz ganz wichtig, der Erschaffer dieser Natur, Gott. Gott hat uns mit der Fähigkeit ausgestattet, die moralischen Grundlagen jeden Rechts mit Hilfe der Vernunft zu erkennen.
Diese Dissertation von Leibniz, in Altdorf präsentiert, findet in der Diskussion seiner Leistung als Jurist und als Philosoph leider und unverdientermaßen nur noch eine geringe Beachtung. Trotzdem weist sie auf etwas hin, was Leibniz bis zum Ende seines Lebens bewegte: Wie gelingt es, Macht zu beschränken, Herrschaftswillkür zu verhindern, der Freiheit eine Grundlage zu geben. Dieses Bemühen findet in seinen späteren juristischen und philosophischen Schriften eine konsequente Fortsetzung. Darauf weist der britische Philosoph und Leibniz-Biograph Nicholas Jolley (S 182) hin: Für Leibniz ist Macht niemals Quelle von Recht und Gerechtigkeit. Deshalb ist Leibniz auch ein früher Philosoph des vernunftgegründeten Freiheitsgedankens in Europa. Nur die Vernunft, die Prüfung von Gründen, kann Recht ohne Machtwillkür gewährleisten, denn, so Leibniz: „Zu sagen, mein Wille, meine Macht, nehmen den Platz der Vernunft ein, ist genau das Motto der Tyrannei. Diese Meinung würde außerdem nicht hinreichend Gott von dem Teufel unterscheiden.“ (Riley, S 46).

(c) Peter Kopf 2016

Fortsetzung folgt